23-05-07 DAS Potential
Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Matthäus 11,28
So einladend diese Worte auch klingen mögen, sie sind nicht frei von einer leisen Unterstellung. Wie kommt Jesus auf den Gedanken, dass wir „mühselig und beladen" sind? Vielleicht hilft uns eine kleine Rückbesinnung auf unser Leben. Die Erfahrung lehrt: Zur Ökonomie des Lebens gehört das Schuldigwerden. Niemand ist geboren, um vollkommen zu sein. Hierfür gibt es eine einsichtige Erklärung. Der Mensch ist zugleich ein Individuum (Einzelperson) und ein Gemeinschaftswesen. Um Mensch zu werden und Mensch zu sein, ist er sein Leben lang auf andere angewiesen, ohne seine eigene Persönlichkeit aufzugeben, ungeachtet der Frage, ob er mit seinem Nächsten verträglich (kompatibel) ist oder nicht. Deshalb birgt die Begegnung von Individuen von Natur aus das Risiko von Missverständnissen, Reibungen, Konflikten und Verletzungen. Fortwährend wird der Mensch daran erinnert: „Du bist nicht allein auf der Welt." Dieser Sachverhalt lässt uns nicht nur schuldig werden, sondern beeinträchtigt auch unsere Freiheit. Auf diesen Zusammenhang zwischen Schuld und Freiheitsverlust verweist Jesus nach den Worten des Johannes: „Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. ... ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei." (Joh 8,31–32.34.36) Dies ist das unerhörte Angebot des Evangeliums: Vergebung befreit. Die positiven Auswirkungen dieser Erfahrung beschränken sich nicht auf eine momentane Entlastung, sondern prägen nachhaltig das Zusammenleben mit anderen, indem sie uns grundsätzlich in die „Schule der Vergebung und der Versöhnung" schicken, damit wir unsere Verträglichkeit wiedererlangen. Dank der verinnerlichten Vergebungs- und Versöhnungskultur besteht in den meisten Beziehungskonflikten die berechtigte Hoffnung, dass wir am Ende der Krise auf dem gemeinsamen Weg neu „durchstarten" können. Das Vertrauen in dieses Potenzial gewährt ein großes Stück Freiheit. Das ist gleichzeitig Vergangenheitsbewältigung, Heilung der Erinnerungen und Balsam für die Seele.
Thomas Domanyi
Bibellese:
Morgens: 2. Könige 7–9
Abends: Johannes 1,1–28
© Advent-Verlag Lüneburg - mit freundlicher Genehmigung
Die hier wiedergegebene Andacht ist aus dem Andachtsbuch des Advent-Verlag Lüneburg entnommen. Die folgenden Links führen zu verschiedenen Versionen des aktuellen Andachtsbuchs: als Buch, als PDF.